TIR analysiert bundesrätliche Ablehnung einer Videoüberwachung in Schlachtbetrieben
Nachdem eine Untersuchung der Bundeseinheit für die Lebensmittelkette (BLK) gravierende Verstösse in Schlachtbetrieben festgestellt hat, verlangen Ständerat Daniel Jositsch (SP/ZH) und Nationalrätin Meret Schneider (GPS/ZH) nun eine unabhängige Kontrolle des Schlachtvorgangs. Die Einführung einer Videoüberwachung in Schlachtbetrieben lehnt der Bundesrat indessen ab. Die Stiftung für das Tier im Recht (TIR) nimmt hierzu Stellung.
18.05.2020
Bereits in der Vergangenheit brachten verdeckte Videoaufnahmen aus Schlachtbetrieben in verschiedenen Schweizer Kantonen wiederholt krasse Tierschutzverstösse ans Licht. Zu sehen waren etwa Misshandlungen in Form eines äusserst groben Umgangs mit Schafen, Schweinen, Kälbern und weiteren Tieren sowie qualvolle Tötungen durch nicht fachgemässe und dadurch unzureichende Betäubung der Tiere, vgl. etwa die im Oktober 2018 eingereichten Strafanzeigen der TIR gegen zwei Betriebe im Kanton Waadt.
Zwischen Januar 2018 und März 2019 führte die Bundeseinheit für die Lebensmittelkette (BLK) eine schweizweite Untersuchung in 67 Schlachtanlagen durch. Dabei wurde festgestellt, dass in vielen Schlachtbetrieben, und insbesondere in jenen mit geringer und mittlerer Kapazität, die Kontrolle des Betäubungs- und Entblutungserfolgs gänzlich fehlte oder nicht korrekt vorgenommen wurde. Der Bericht der BLK belegt systematisch vorliegende Missstände beim Betäuben und Entbluten von Tieren.
Gemäss aktueller Rechtslage werden Schlachtbetriebe zwar von Amtspersonen kontrolliert, dies jedoch im Wesentlichen bezogen auf die hygienischen Vorschriften im Bereich der Lebensmittelsicherheit. Während die Gesundheit der Tiere bei der Ankunft im Schlachthof visuell überprüft und der tote Tierkörper eingehend auf seine Genusstauglichkeit und Unbedenklichkeit hin untersucht wird, liegt der tierschutzrelevante und heikle Tötungsvorgang praktisch vollkommen in der Verantwortung der Schlachthofbetreiber. Diese sind zwar zur Dokumentation und Selbstkontrolle verpflichtet, eine unabhängige Überwachung findet jedoch nicht statt. Lediglich die Dokumentation wird amtlich stichprobeweise überprüft.
Die eingangs geschilderten erheblichen Tierschutzverstösse bei der Betäubung und Entblutung von Tieren bilden – vor diesem Hintergrund wenig erstaunlich – keine seltene Ausnahme. Im Hinblick auf das immense Leid, das eine ungenügende Betäubung oder Entblutung für betroffene Tiere zur Folge hat, ist das Abstellen auf die Selbstkontrolle der Schlachtbetriebe als Vollzugsgrundlage für die Veterinärämter unzureichend. Die Kontrollen müssen unabhängig erfolgen – entweder in Form einer Videoüberwachung oder in Form einer hierfür zuständigen Amtsperson vor Ort.
Der Strafrechtsprofessor Daniel Jositsch hat deshalb im März 2020 im Ständerat eine Motion für die Einführung obligatorischer Videoüberwachungen in Schlachtbetrieben eingereicht, anfangs Mai 2020 forderte überdies Meret Schneider, Co-Geschäftsleiterin von Sentience Politics, in einer nationalrätlichen Motion die Einführung einer veterinärbehördlichen Kontrolle des Betäubungs- und Entblutungserfolgs vor Ort.
Zur Motion Jositsch hat der Bundesrat inzwischen Stellung genommen. Darin räumt er zwar unverzüglichen Handlungsbedarf ein, verweist jedoch auf die durch das zuständige Bundesamt bereits eingeleiteten Massnahmen.
Eine Verbesserung des Schlachtablaufs durch eine angemessene Schulung des Personals sowie die laufende Implementierung neuer Erkenntnisse zu den Betäubungsmethoden zählen aus Sicht der TIR zu den Grundvoraussetzungen für die rechtliche Zulässigkeit eines Schlachtbetriebs. Anpassungen in diesem Bereich machen griffige Kontrollen jedoch nicht obsolet, vielmehr bildet die Überwachung der Umsetzung entsprechender Vorgaben ein zentrales Element des Tierschutzvollzugs.
Das bisherige, auf
Selbstkontrolle basierende System hat sich als unzureichend erwiesen.
Nicht die Art und Weise der Dokumentation bildet hierbei das Problem,
vielmehr ist das grundsätzliche Vertrauen in eine eigenverantwortliche
Einhaltung der Tierschutzvorschriften in einem derart sensiblen Bereich
fehl am Platz. Eine blosse Anpassung der Dokumentation im Rahmen der
Selbstkontrolle vermag das schwerwiegende Vollzugsproblem daher nicht zu
lösen.
Nach Ansicht des Bundesrats ist
die Einführung einer Videoüberwachung unverhältnismässig. Er verkennt
dabei, dass die Anwendung des Verhältnismässigkeitsprinzip nicht mit dem
Beharren auf einer möglichst milden Massnahme gleichzusetzen ist.
Greift die mildere Massnahme nicht, ist vielmehr zwingend eine schärfere
bzw. eine geeignete und wirkungsvolle Massnahme zu ergreifen, um den
rechtlichen Anforderungen Genüge zu tun. Die bundesrätliche Auffassung
zeigt einmal mehr die Bagatellisierung selbst elementarer
Tierschutzanliegen und die einseitige Auslegung des
Verhältnismässigkeitsgrundsatzes zugunsten menschlicher Interessen. Sie
ist als verfassungswidrig abzulehnen.
Weitere Informationen
- TIR analyse le refus du Conseil fédéral d’une vidéosurveillance dans les abattoirs
- Motion 20.3023 "Einführung obligatorischer Videoüberwachungen in Schlachtbetrieben" von Ständerat Daniel Jositsch
- Motion 20.3344 "Eine unabhängige Kontrolle von Betäubung und Entblutung in Schlachtbetrieben" von Nationalrätin Meret Schneider