TIR kritisiert Bundesgerichtsentscheid zum Jagdrecht und zur Nachsuche
28.07.2016
Das Obergericht des Kantons Bern kam im Urteil vom 29. Februar 2016 zum Schluss, dass das Unterlassen der zeit- und fachgerechten Nachsuche sowohl eine Widerhandlung gegen das bernische Gesetz über Jagd und Wildtierschutz als auch eine Misshandlung gemäss Art. 26 Abs. 1 lit. a des Tierschutzgesetzes (TSchG) darstelle. Ein mehrstündiges Zuwarten widerspreche dem Zweck der Nachsuche, der ja gerade im Auffinden und Erlösen des Tieres liege. Entsprechend dem jagdrechtlich verankerten Grundsatz der Weidgerechtigkeit sei der Jäger zur grösstmöglichen Sorgfalt, zur Vermeidung unnötiger Qualen und zur Bewahrung der Würde der Tiere verpflichtet. Ein Verstoss gegen diese Pflichten erfülle den tierschutzrechtlichen Tatbestand der Tierquälerei. In der Folge sprach das Obergericht eine bedingte Geldstrafe von 40 Tagessätzen à 40 Franken, eine Verbindungsbusse von 400 Franken und eine Übertretungsbusse von 1200 Franken aus. Gegen diesen Entscheid erhob der beschuldigte Jäger in der Folge Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht.
Ebenso wie die Vorinstanz stützt sich auch das Bundesgericht in seinem Urteil 6B_411/2016 sowohl auf die Bestimmungen der kantonalen Jagdgesetzgebung als auch auf jene der eidgenössischen Tierschutzgesetzgebung. Entsprechend kommt es zurecht zum Schluss, dass dem Jagdrecht gegenüber dem Tierschutzrecht nicht generell Vorrang einzuräumen ist – obwohl das Tierschutzgesetz in Art. 2 Abs. 2 TSchG einen Vorbehalt zu Gunsten des Jagdrechts enthält. Der Grundsatz, wonach niemand einem Tier ungerechtfertigt Schmerzen, Leiden, Schäden oder Ängste zufügen oder seine Würde in anderer Weise missachten darf, gilt somit auch im Bereich der Jagd. Demnach sind die tierschutzrechtlichen Tierquälereistrafnormen gemäss Art. 26 TSchG auch im Zusammenhang mit jagdrechtlichen Handlungen heranzuziehen.
Das Bundesgericht bestätigt in der Folge zwar, dass der Beschwerdeführer durch das Unterlassen der zeit- und fachgerechten Nachsuche den Tatbestand der Tierquälerei erfüllen würde, ist aber der Ansicht, dass er unter den konkreten Umständen nicht zu einer sofortigen und damit nächtlichen Nachsuche verpflichtet gewesen sei. Die höchstrichterliche Instanz bringt vielmehr vor, dass der Beschuldigte erst am nächsten Morgen, also mehrere Stunden nach der Schussabgabe, die Nachsuche hätte einleiten müssen. Zur Auslegung des Begriffs der "zeitgerechten Nachsuche" stützt sie sich dabei auf ein Merkblatt der Arbeitsgemeinschaft für das Jagdhundewesen. Gemäss diesem ist grundsätzlich vom Nachsuchen in der Nacht abzusehen, ausser es steht zweifelsfrei fest, dass das nachzusuchende Tier tödlich getroffen ist und in der Nähe des Anschusses liegt. Aufgrunddessen könne dem Beschwerdeführer nicht zum Vorwurf gemacht werden, dass er nicht bereits in der Nacht nach den angeschossenen Füchsen gesucht hatte. Es genügt nach bundesgerichtlicher Meinung somit, wenn bei Tagesanbruch mit der Nachsuche begonnen wird.
Nach Ansicht des Bundesgerichts ist für den Tatbestand der Tierquälerei lediglich zu prüfen, ob in jenem Zeitpunkt, in dem mit der Nachsuche hätte begonnen werden müssen, ein Tier tatsächlich Schmerzen oder Leiden erlitt. Weil diese Voraussetzungen sowohl beim mutmasslich nicht getroffenen als auch beim verendeten Fuchs nicht gegeben sind, kann sich der Beschuldigte nach Meinung des Bundesgerichts hier gar nicht der Tierquälerei schuldig gemacht haben. Beim lahmenden Fuchs hätte der Beschwerdeführer indessen bei Tagesanbruch grundsätzlich mit der Nachsuche beginnen müssen. Allerdings geht aus dem Sachverhalt nicht hervor, ob der Fuchs zu diesem Zeitpunkt noch lebte oder litt. Demnach kann nach Auslegung des Bundesgerichts auch hier die Frage bezüglich einer Tierquälerei nicht geklärt werden. Der Fall wird deshalb mit der Anweisung an die Vorinstanz zurückgewiesen, dass, sofern nichts anderes bewiesen wird, davon ausgegangen werden muss, dass das Tier keine Leiden hat ertragen müssen. Eine Bestrafung aufgrund des Unterlassens der zeit- und fachgerechten Nachsuche gemäss den jagdrechtlichen Bestimmungen kommt dabei nur dann in Betracht, wenn eine Tierquälerei gemäss Art. 26 Abs. 1 lit. a TSchG verneint wird.
Den bundesgerichtlichen Erläuterungen kann nach Ansicht der TIR nicht gefolgt werden. Wäre einem Jäger in einem Fall wie dem vorliegenden eine nächtliche Nachsuche nicht zuzumuten, würden die ihm obliegenden tierschutzrechtlichen Pflichten praktisch generell ausser Kraft gesetzt werden – dies unabhängig davon, dass der Jäger die Gefahr für das Tierwohl durch abendliches Schiessen ja gerade selbst geschaffen hat. Erfolgt eine Jagd in der Dämmerung oder am Abend und besteht die konkrete Gefahr, dass Tiere tödlich verletzt sind, kann den Anforderungen an eine fach- und zeitgerechte Nachsuche nur dann Genüge getan werden, wenn sie umgehend eingeleitet wird. Das Bundesgericht stützt sich zudem ausschliesslich auf das Merkblatt der Arbeitsgemeinschaft für das Jagdhundewesen. Es verzichtet dabei explizit auf die Einholung eines Fachgutachtens und unterlässt es, das Merkblatt in fachlicher Hinsicht einer Prüfung zu unterziehen oder verschiedene Quellen und Meinungen zu berücksichtigen und gegeneinander abzuwägen. Damit wird dem Merkblatt einer privatrechtlichen Organisation, die in erster Linie Jagd- und nicht Tierschutzinteressen vertritt, mehr Gewicht zugemessen als der eidgenössischen Tierschutzgesetzgebung, die für die Zeit der Schussabgabe auf die Füchse bis zum Tagesanbruch suspendiert wurde.
Diese Auslegung erstaunt insofern, als das Bundesgericht eigentlich festhält, dass die Frage der zeitgerechten Nachsuche eine tierschutzrechtliche ist. Trotzdem wird der Begriff im fraglichen Entscheid gerade nicht nach tierschutzrechtlichen Grundsätzen ausgelegt und beurteilt, sondern vielmehr nach jagdrechtlichen.