Tages-Anzeiger vom 5.8.2003: Mehr oder weniger glückliche Katzen
Im Schadenersatzrecht wird dem Wesen der Katze weitgehend Rechnung getragen. Die Rechte des Tierhalters im Wohn- und Nachbarrecht können aber
durchaus beschnitten werden. In Deutschland sind diese Fälle viel
gründlicher ausgeleuchtet worden. Unter dem Aspekt des Eindringens des
Haustiers in das Nachbargrundstück wird über den Umfang der
Duldungspflicht diskutiert hinsichtlich der Anzahl der Katzen und
katzenspezifischer Verhaltensweisen. Verschiedene Gerichtsentscheide
sind dazu ergangen, die in der bemerkenswerten Dissertation von Claudia
Dallemand, Die Rechte des Tierhaltes im Wohn- und Nachbarrecht, Shaker
Verlag, 1998, ISBN 3-8275-5625-9, S. 188 – 230, dargestellt und
kommentiert sind.
Wir wünschten uns ähnliche Untersuchungen für die Schweiz. Bis solche vorliegen, können sich Anwältinnen und Anwälte nötigenfalls bei dieser Arbeit von Claudia Dallemand zumindest über die – dem Schweizer Recht ähnlichen – deutschen Verhältnisse kundig machen.
Artikel 1 - Von glücklichen und unglücklichen Katzen
Von Christine D’Anna-Huber
Vielleicht sagte der Nachbar dies alles nicht ganz so zielstrebig auf den Punkt gebracht, aber solcherart war der Sinn seiner Rede. Zweihundertfünfzig Franken wollte er für die in Scherben gegangene Erinnerung. Und ausserdem bemerkte er vorwurfsvoll: «Sie sind bereits von andern Nachbarn darauf hingewiesen worden, dass Ihr Kater in fremde Wohnungen einsteigt und sich überdies zu nächtlicher Stunde lautstark mit andern Katzen balgt - treffen Sie endlich Massnahmen, um dieses inakzeptable Verhalten zu unterbinden.» Er fügte hinzu: «Das nächste Mal geht es dann vielleicht um einen Flecken auf einem Perserteppich, und das wird Sie noch viel teurer zu stehen kommen!» Und schliesslich drohte er: «Wenn Sie Ihren Kater nicht kastrieren lassen, dann tue ich es und schicke Ihnen die Rechnung.» Worauf der Nachbar mit Sack und Vase wieder abzog.
Dem Kater die Freiheit entziehen?
Wir waren perplex. Da wir selber im Parterre wohnen, gehen auch bei uns fremde Katzen ein und aus oder hinterlassen Katzendreck auf dem Rasen. Vielleicht ein bisschen weniger oft, seit sie dabei riskieren, eins von unserem eigenen Hauskater auf die Nase zu bekommen. Aber einmal angenommen, eine dieser Katzen hätte in der Wohnung einen Schaden angerichtet. Niemals wäre es uns in den Sinn gekommen, deswegen den jeweiligen Besitzer zur Rechenschaft zu ziehen. Geärgert hätten wir uns höchstens über die eigene Unachtsamkeit. «Katzen sind doch einfach Katzen», sagte ich zu meinem Mann, «unabhängig, eigensinnig - gerade deshalb hat man sie doch gern.» Er nickte, meinte aber: «Vielleicht irren wir uns. Vielleicht ist der Katzenhalter tatsächlich für alles was seine Katze ausser Haus anstellt, verantwortlich.»
Was dann? Schadenersatzklagen erboster Nachbarn sammeln? Den Kater einsperren und ihm die Freiheit abgewöhnen? An diesem Abend bereiteten wir die Kinder auf die Möglichkeit vor, dass unser Büsi bald zum lieben Bauern zurückkehren könnte, auf dessen Hof es vor zwei Jahren geboren wurde. Es gab bittere Tränen. «Curiosity killed the cat», sagen die Engländer.
Aber vielleicht waren solch extreme Massnahmen ja noch abzuwenden. Am nächsten Morgen begann ich mich zu informieren. Bei der Haftpflichtversicherung wollte man von einer Katzenhalterhaftung generell nichts wissen, allerdings ohne genaue Begründung: «Wir zahlen auf keinen Fall», sagte der Sachbearbeiter, und bezog sich dabei auf seine rund zwanzigjährige Erfahrung, «und so wie Sie den Vorgang schildern, müsste der Besitzer der Vase zuerst nachweisen können, dass nicht sein eigener Hund das Objekt zerbrochen hat. Er ist für seinen Hund nämlich verantwortlich - Sie für Ihre Katze nicht.»
Der Nachbar muss sich schützen
Eine fundiertere Antwort gab es beim «Beobachter»-Ratgeberdienst: «Die Katze wird als wildes Tier vom Gesetz als nicht dressierbar angeschaut, ihr Halter haftet deshalb nicht für Schäden, die sie verursacht. Ganz im Gegensatz zum Hundehalter, der sein Tier erziehen und sorgfältig beaufsichtigen muss», lautete hier der Bescheid. Direkt im Gesetz sei das nicht festgehalten, aber es leite sich aus Artikel 56 des Obligationenrechtes ab (siehe unten stehenden Artikel). Wolle sich ein Nachbar vor Vorfällen wie dem mit der zerbrochenen Vase schützen, dann müsse er eben die notwendigen Vorkehrungen treffen, damit fremde Katzen gar nicht erst in seine Wohnung gelangen könnten. Und für die Kosten, die ihm daraus erwüchsen, müsse er selber aufkommen.
Schlimm fand die «Beobachter»-Juristin ausserdem des Nachbarn Drohung, unsere Katze kastrieren lassen zu wollen. Das wäre Faustrecht, sagte sie, und unbedingt strafbar. Überhaupt müsste ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Benehmen unseres Katers und der Tatsache, dass er nicht kastriert sei, erst nachgewiesen werden, meint Antoine Goetschel, ein auf Tierrecht spezialisierter Zürcher Anwalt. Mit so viel juristischem Rückhalt ist die Sache klar: Der Kater darf bleiben und weiterhin im Quartier herumspazieren.
Verlangt die Ethik, dass wir den Schaden für die kaputte Vase dennoch übernehmen? Wäre es moralischer, wenn wir unsere Katze einsperren würden? Sind nur kastrierte Kater gute Kater? Was würde aus der von unserem Tierarzt geführten Warteliste von Katzendamenhaltern, die zwecks gewünschtem Nachwuchs mit uns und unserem Kater Bekanntschaft schliessen möchten? Und überhaupt: Falls nur nicht kastrierte Kater in der Nacht lautstark streiten, mit wem streitet dann der unsrige, wenn alle andern wirklich kastriert sind?
Antoine Goetschel, der gerade ein Buch zum Thema «Tier im Recht» verfasst, ist der Meinung, dass unser «vorwerfbares Verhalten» gewiss an einem kleinen Platz stehe. Es handle sich bei unserem Kater ja nicht um eine auf das Zerstören fremden Wohnmobiliars abgerichtete Kampfkatze. Dennoch gehe ihm die generelle Nicht-Haftbarkeit des Katzenhalters zu weit. Sie stamme wohl «aus einer früheren Zeit». Heute sei es jedoch einem «gedeihlichen Zusammenleben mit dem Tier» nicht mehr dienlich, wenn eine herumstreunende Katze praktisch mit Blitz und Wetter gleichgesetzt werde. Im Bereich der Tierhalterhaftung, ist Goetschel überzeugt, stehe unsere Gesellschaft am Anfang einer neuen Bewusstseinsbildung.
Kastriert, entkrallt, eingesperrt
Und er rät, mit dem Nachbarn einen Mittelweg zu finden und die Kosten für den Schaden, «so weit zumutbar», aufzuteilen. Die Lust zum Kompromiss vergeht uns rasch, als wir herausfinden, dass der Nachbar inzwischen im Quartier eine Petition gegen unsern Kater organisiert hat. Wir erfahren es von einer anderen Nachbarin: «Es ist nicht gegen Sie gerichtet, es ist zum Wohl Ihres Katers», beteuert sie, «nur deshalb habe ich unterschrieben.» Aus der gleichen Sorge heraus bietet sie sogar an, die Gesamtkosten für die offenbar von den Petitionären gewünschte Kastration des Übeltäters zu übernehmen: «Ihr Kater wäre ja so viel glücklicher», sagt sie, «glauben Sie mir doch!»
Am selben Abend sind Freunde zu Besuch, die von einem mehrjährigen Aufenthalt aus Nashville, USA, zurückkehren. Sie erzählen, dass ihre Bewerbung um eine (kastrierte und entkrallte) Katze im dortigen Tierheim an der Frage scheiterte, ob sie die Katze auch ins Freie lassen würden. Sie bejahten und wurden daraufhin grässlich abgekanzelt. Nur schlechte und unverantwortliche Menschen, sagte man ihnen, würden ein schutzloses Tier den Gefahren der Umwelt aussetzen wollen.
Was ist eine glückliche Katze? Das sei eine philosophische und wohl auch politische Frage, meint Philipp Engel, Oberassistent am Rechtswissenschaftlichen Institut der Universität Zürich, der in der hiesigen Gesetzespraxis noch keine Tendenz zu einer strengeren Behandlung der Katzenhalter feststellt.
Die Tendenz wird kommen, glauben Sie mir. Inzwischen hat unser Kater für den Sommer Asyl auf der Alp gefunden. Vorerst noch mit unversehrt kugelig-pelzigem Gemächt. Im Herbst, wenn hoffentlich nur die Blätter fallen, geht die Geschichte weiter.
Artikel 2 - Katzenhalter haften nicht für die Missetaten ihrer Tiere
Für die Justiz gilt die Katze als nicht vollständig domestizierbares Tier. Ihre Besitzer werden für Schäden meist nicht haftbar gemacht. Ganz anders ist das bereits in der Neuen Welt.
Doch einen solchen «Exkulpationsbeweis» müssen zwar beispielsweise Hundebesitzer im Konfliktfall erbringen - nicht aber Katzenhalter. In ihrer Weisheit erachtet die Justiz nämlich, dass die Katze kein vollständig domestiziertes Tier sei und deshalb von ihrem Halter nicht verlangt werden könne, sie fortwährend zu beaufsichtigen. Und so hat es sich in der Schweizer Gesetzgebung eingebürgert, dass für von Katzen angestellte Untaten nicht der dazugehörige Mensch verantwortlich gemacht wird. Beispiele finden sich im Berner Kommentar zum Obligationenrecht. So hat ein Genfer Gericht 1938 festgehalten: «Eine Katze ist von Natur aus sehr selbstständig. Es liegt noch keine Sorgfaltspflichtverletzung darin, dass das Tier sich frei auf die Hausterrasse begeben kann.» Zu einem weitaus spektakuläreren Fall schreibt ein Waadtländer Gericht 1962: «Eine Katze überquert die Strasse und verursacht eine Auffahrkollision. Bei einer gutartigen Katze sind keine besonderen Schutzmassnahmen denkbar. Sie lässt sich,einmal ausser Haus, kaum beaufsichtigen oder gar anbinden.»
Laut Philipp Engel, Oberassistent am Rechtswissenschaftlichen Institut der Universität Zürich, wird in der Fachliteratur bis August 2002 nur ein einziger Fall erwähnt, in dem ein Schweizer Gericht eine Verletzung der Sorgfaltspflicht des Katzenhalters bejaht hat. Dabei ging es um eine Katze, die eine mit ihrem Hund ins Haus getretene Besucherin angefallen und in die Hand gebissen hatte. Eine Katze, die wenige Tage zuvor Junge geworfen habe und «somit erfahrungsgemäss angriffig» sei, dürfe ein Katzenhalter nicht samt ihren Jungen im Bereich des Hauseinganges lassen, sondern müsse «an einem gesicherten Ort verbracht werden», urteilte ein Zuger Gericht 1949.
Überholte europäische Sitten
Doch wie immer hinken wir in der Alten Welt den neuesten Trends hinterher. Die «Vereinigung Kanadischer Tierärzte» beispielsweise bringt nur wenig Verständnis für die «jahrhundertealte Sitte» auf, Katzen als festen Bestandteil menschlicher Siedlungen anzusehen. In den heutigen dicht bewohnten Quartieren könne nicht mehr von den Nachbarn verlangt werden, frei laufende Katzen einfach so zu dulden. Diese neue Haltung Katzen gegenüber schlage sich bereits in verschiedenen Gemeindeverordnungen nieder, schreiben die kanadischen Tierärzte in ihrer Empfehlung zur Katzenhaltung. Und sie stellen völlig ungerührt fest, es gebe kaum überzeugende Gründe dafür, warum eine Katze überhaupt ins Freie gelassen werden sollte. Umsorgt, gut genährt und durch Spielen mit ihrem Lieblingsmenschen fit gehalten, sei eine kastrierte Katze im Haus nicht nur viel weniger Krankheitskeimen ausgesetzt, sondern einfach rundum glücklich. Und über solch glückliche Katzen freuen sich dann auch die Nachbarn ganz ausnehmend. (cad)